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Heulen und Klappern

Orgelsanierung in Ludwigsburg
Heulen und Klappern

Orgelbauer sind Feinmechaniker. Anders als viele in ihrem Gewerk beschäftigten Schreiner bauen sie nicht nur neue Instrumente, sondern führen auch Stimmungen und Wartungen durch. Die Walcker-Orgel in St. Johann, Ludwigsburg, wartet auf eine große Sanierung.

Vincent Meesters sitzt am Spieltisch der Orgel in der katholischen Kirche St. Johann in Ludwigsburg und improvisiert über das für morgen vorgesehene Lied zum feierlichen Einzug des Pfarrers und der Ministranten: »Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen«, Gotteslob Nr. 400. Die erste Strophe schließt sich eher leise und zurückhaltend an. Gezogen sind die Register Prinzipal 8 Fuß, Oktave 4 Fuß und Narsard 2 2/3 Fuß. Die Fußangabe nennt die Länge der jeweils größten Pfeife. Jedes Register hat sein eigenes Klangbild und eigene Pfeifen. Zur zweiten Strophe möchte er die Klangfülle mit der Trompete und der Mixtur anreichern. Das passt zur Begrüßung und zum Text, in der es um die Menschwerdung Christi geht. Das Zuschalten des Registers hat er vorher einprogrammiert, per Fußtaster oder im Orgeljargon Piston löst er es aus und spielt weiter. Zum dritten Takt der zweiten Strophe spielt er den ersten Ton, das hohe h, – und dann der Heuler! Die Taste hat er einen halben Takt lang gedrückt und dann losgelassen, trotzdem will das hohe h nicht aufhören, es tönt und tönt … Vincent Meesters lässt es diesmal gewähren und demonstriert damit die Grausamkeit des Heulers. Dass es heute ausgerechnet das h wie Heuler ist, zaubert ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Er steht auf, nimmt seinen Werkzeugkoffer, öffnet die Tür in die Orgel, tritt ein und behebt den Fehler. Das dauert drei Minuten.

Es tönt und tönt …

Bei der Messe hätte er reflexartig das komplette Hauptwerk der Orgel abgeschaltet und dadurch nicht nur das heulende h zum Schweigen gebracht, sondern das Gros der Orgel mit ihren insgesamt 1809 Pfeifen und stolzen 27 Registern. Es verblieben lediglich das in der Lautstärke über jalousieartige Klappen an der Front des Orgelgehäuses regulierbare Schwellwerk sowie das mit den Füßen zu spielende Pedalwerk mit den Bässen. Der Klang würde dünner statt voller.

Die Orgel hat der Ludwigsburger Orgelbauer Walcker 1971 gebaut. Nach der ersten Sanierung 1991 steht jetzt die zweite an. Geplant sind auch behutsame Änderungen an der Disposition, das heißt an der Zusammenstellung der Register. Ursprünglich waren die Register so gewählt, dass sich barocke und im begrenzten Umfang romantische Stücke spielen lassen. Barocke Register bieten einen klaren und reinen Klang mit vielen Obertönen, während die romantischen danach streben, möglichst ein komplettes Symphonieorchester nachzuahmen. Auf Romantik disponierte Orgeln mit ihren vielen Grundstimmen wirken mit ihrer dunklen Tonfärbung jedoch etwas verwaschen. Trotzdem will die Gemeinde das romantische Repertoire ausweiten. Im Schwellwerk soll daher die als Klangkrone geltende Scharfzimbel einem 8-Fuß-Suavialregister weichen. Außerdem soll das Hauptwerk zusätzlich noch ein 8-Fuß-Gambenregister erhalten. Beide neuen Register ahmen die Streicher nach. Ich treffe mich mit den Organisten Rudi Neugebauer und Vincent Meesters direkt an der Orgel. Sie zeigen ganz konkret, welche Probleme ihnen das Instrument bereitet. Beide gehören zum sechsköpfigen Organistenteam der Kirchengemeinde St. Thomas und Johannes. Die fünf Jahre ältere Walcker-Orgel in der Schwesterkirche St. Thomas Morus bereitet ihnen jedoch keine Probleme, zum einen, weil sie bereits saniert worden ist, zum anderen, weil in den 60er-Jahren weder moderne Materialien noch Elektronik Einzug in den Orgelbau gefunden hatten. Zunächst stattet jedoch der Pfarrer, Frank Schöpe, einen Besuch auf der Orgelempore ab. Er freut sich, dass von den über Spenden zu finanzierenden Sanierungskosten in Höhe von 155 000 Euro nur noch 15000 fehlen und sagt: »Gesang und Orgelspiel gehören zum feierlichen Gottesdienst dazu. Wir brauchen nicht nur eine funktionstüchtige Orgel, sondern eine mit vielfältigem Ausdrucksvermögen. In der Osternacht soll sie jubilieren, in der Karwoche leise klagen und das Geschehen des ganzen Kirchenjahres auf ihre ganz persönliche Weise vertiefen.«

Ohne Wartung geht gar nichts

Der gelernte Orgelbauer Vincent Meesters begann 1978 zunächst ehrenamtlich, später gegen Entgelt die Orgel zu spielen und sich jenseits der Wartungsverträge um das Instrument zu kümmern. Er kennt es genau und weiß, wie es sich mit oder ohne Heizung, bei schwülem oder kaltem Wetter, mit vielen oder wenigen Besuchern verhält. So kann er etwa zur Osternacht die wichtigsten Register im Voraus stimmen. Kleine Reparaturen führt er selbst durch. Den Materialverschleiß und die Alterung etwa eines Blasebalges aus Leder kann weder er noch die Wartungsfirma verhindern. Vincent Meesters geht wieder in die Orgel hinein, um einige Pfeifen zu stimmen. Mit Kamera und Stativ folge ich ihm in den engen Raum. Ich sehe die Rückseite der Manuale, darüber eines der Wellbretter. Drückt der Spieler eine Taste, hebt sie sich wie eine Wippe im Innern der Orgel und zieht an den Abstrakten, die wiederum über Hebel Wellen auf dem Wellenbrett drehen, um den Impuls des Spielers bis zum Ventil des entsprechenden Tons weiterzuleiten. Dieser Mechanismus heißt Traktur. Die Traktur der Orgel von St. Johann besteht aus Aluminiumdrähten, -wellen und -winkeln.

In den 70er-Jahren stand die Alutraktur für den Fortschritt, weil sich die Abstrakten komfortabel von der Rolle produzieren ließen. Außerdem galt Holz damals als nicht mehr zeitgemäß und primitiv. Heute will die Kirchengemeinde jedoch die Alutraktur gegen eine aus Holz ersetzen, weil das Holz nicht klappert, die Wellen nicht ausschlagen, kaum Wärmedehnung auftritt und alles präziser und leichter läuft. Über mir befindet sich die Windlade des Schwellwerks, von unten sieht sie aus wie ein Brett. Sie leitet den vom Ventilator erzeugten und im Blasebalg gespeicherten Orgelwind zu den Ventilen. Für jede Tonhöhe gibt es ein Ventil und darüber eine in ein dickes Holzbrett eingearbeitete Luftkammer, die Tonkanzelle. Sie versorgt alle Pfeifen derselben Tonhöhe, aber verschiedener Register mit Luft. Für jedes Register ist die Tonkanzelle nach oben hin aufgebohrt. Auf jeder Bohrung sitzt eine Orgelpfeife, dazwischen befindet sich jedoch noch ein weiteres, über die Registertraktur zu betätigendes Ventil. Bei dieser Orgel geschieht das elektropneumatisch.

Über eine Leiter begebe ich mich ins Schwellwerk. Vinzent Meesters ruft Rudi Neugebauer, der am Spieltisch sitzt, die Bezeichnung des Tons der Zinnpfeife zu. Rudi Neugebauer drückt die Taste und dazu den Referenzton, während Vincent Meesters die Stimmrolle, ein von der Oberkante der Pfeife aus aufgewickelter Blechstreifen, mit der Spitzzange packt und etwas zurückdreht. Jetzt stimmt er gedackte, das heißt oben mit einem Stöpsel geschlossene, Holzpfeifen im vorderen Bereich des Schwellwerks. Ich steige vor der Orgel auf eine Leiter und fotografiere das durch die Schwellwerkklappen. Mit der Hand schiebt er die mit Filz und Leder bezogenen Stöpsel ein wenig hinein oder heraus. Ein verschlissener Stöpsel sackt ab und legt ein komplettes Register lahm, weil er im wahrsten Sinne des Wortes die Stimmung versaut. So ein Defekt ist für mich zwar genauso unsichtbar, wie Lecks im Blasebalg und Windkanal, aber dennoch nicht zu überhören.

»Höchste Zeit, dass es losgeht«

Vincent Meesters hat den letzten Ton gestimmt. Jetzt spielt Rudi Neugebauer zum Test »Ich lobe meinen Gott« und prompt ist er wieder da, der Heuler, jetzt beim hohen a. Dieses Mal begleite ich Vincent Meesters bei der Reparatur. Er findet den Fehler an der Traktur vor dem Wellenbrett. Mit einem Steckschlüssel löst er die Klemmung, verschiebt den Draht etwas, zieht die Schraube wieder an und sagt: »Das war’s. Dass sich der Schaden so leicht beheben lässt, tröstet uns nicht. Es ist höchste Zeit, dass wir mit der Renovierung beginnen können.«


dds Redakteur Georg Molinski ist Mitglied
der Kirchengemeinde St. Thomas und Johannes in Ludwigsburg. Vor der Sanierung zeigten ihm die Organisten Vincent Meesters und Rudi Neugebauer was alles an der Orgel klemmt.

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