Heute mehr denn je werden über Netzwerke, soziale Medien und Fachzeitschriften künstliche Eindrücke von perfekten Wohnräumen vermittelt, welche hinter den Kulissen mit großem Aufwand in jedem Detail, nach bestem Verständnis von wohnlicher Atmosphäre in Szene gesetzt wurden. Diese gestellten Objekte sind aber in ihrer »klinischen Reinheit« fernab von jeglicher Zweckmäßigkeit.
Für mein Meisterstück setzte ich mir das Ziel, ein Möbel zu schaffen, das durch eine bereits inhärente Ausgewogenheit besticht und ein nachvollziehbares, stimmiges Gesamtbild ergibt. Zudem sollte es nicht durch zu perfekte und damit abschreckende Details zum Benutzen ausladen – sondern es sollte motivierend einladen. Zugleich sollte es frei bewegt und verändert werden können. Ein Möbel mit rundum eigenstarkem Charakter, welches in jeder Raumposition eine wohnliche Raumatmosphäre fördert. Es ging darum, Gestaltung und Funktion meines Meisterstückes unter diesen Aspekten auszuarbeiten. Das Thema Liegen und Ruhen in der Kombination mit Licht erschien mir geeignet, meine Überlegungen zusammenzubringen. Ergebnis meiner Gedanken war die gestalterische Neuinterpretation der klassischen Chaiselongue, ergänzt um eine Wandleuchte für ein stimmiges Gesamtkonzept.
Die Schräge bestimmt den Entwurf
Zentrum meiner gestalterischen Entscheidungen war das entwurfsbestimmende Element der Schräge, die spätestens beim ersten Gedanken an Neigungswinkel von Rückenlehnen für optimalen Liegekomfort in meinen Entwürfen auftauchte. Diese Schrägen wollte ich nutzen, damit sich das Möbel durch eine schlichte Trichterform mit flachen, und auf den ersten Blick unscheinbaren Winkeln zum Betrachter hin öffnet. Der Benutzer begibt sich in eine aus einem Rückenpolster, Sitzpolster und Arm-/Schulterpolster bestehende »Polsterschale«, die sich ebenfalls durch flache Winkel nach oben hin weitet. Der Korpusunterbau verjüngt sich ebenfalls in Richtung Boden und ermöglicht damit ein gemütlicheres Sitzen auf der Möbelkante. Gleichzeitig werden dem Benutzer dadurch Blicke auf den Korpus und damit andere Materialien und Farben des Möbels verwehrt und der optische Fokus ist allein auf die korpusbündigen, weichen Polster gerichtet.
Die abgewinkelte Korpusfront ziert im rechten Bereich ein klassisches Kumiko mit Asanoha-Motiv. Die an Hanfblätter angelehnte japanische Steckkunst aus schmalen Holzleisten soll die sonst flächige und gerade Front auflockern und durch in der Tiefe variierende Hinterfüllungen stufenweise auflösen. Die aufrechten Kumikos stehen dabei im Kontrast mit der sonst flachwinkligen und horizontalen Linienführung des Möbels und geben ihm die nötige optische Stütze. Das sternförmige Muster aus gleichseitigen Hexagonen zieht die Blicke auf sich und lenkt diese dann gezielt in alle Richtungen, bevor sich das Kumiko in massives Holz umwandelt und die einladende Größe der Liegefläche in den Vordergrund rückt.
Alles eine Frage des Blickwinkels
Dabei stehen die weichen Rundungen der Polsterbespannung »Remix« von Kvadrat im formschönen Kontrast mit den sonst klar definierten Kanten der Holzkonstruktionen in schlichtem Ahorn
Vom Boden abgehoben wird die Chaiselongue durch das vierfüßige Fußgestell mit verhältnismäßig starken Querschnitten (67 x 67 mm), die einen zusätzlichen Eindruck von Stabilität vermitteln. Die Füße verjüngen sich zweiseitig konisch nach unten und schließen zu den Zargen auf Gehrungen ab.
Die offene Leichtbaukonstruktion im Korpusinneren liegt eher im Verborgenen, wird aber beim ersten Anheben des Möbels spürbar. Ich habe mich bewusst gegen einen geschlossenen Korpus entschieden, um den erhöhten handwerklichen Anspruch, den die schiffsbauähnliche Spanten-Kiel-Konstruktion mit sich bringt, für zweite Blicke erkennbar zu machen. Mit den reduzierten Ansichtskanten beim Kiel, der das gesamte Möbel in der Länge überspannt und den leichtdimensionierten Querschnitten der rundverleimten Spanten, lässt sich die Bauweise nicht auf Anhieb vermuten. Durch diese gewählte Konstruktion ermöglicht sich die filigrane statische Umsetzung der Längspannweite.
An der Wand über dem Schulterpolster hängend positioniert sich ein Leuchten-Objekt. Leichte Schrägen sind hier nicht nur aus gestalterischen Gründen, sondern auch aus funktionalen angedacht, um das warmweiße Licht in einem flacheren Einfallwinkel auf ein zu lesendes Buch zu richten. Die Größenverhältnisse sind in Anlehnung an die Dimensionen der Chaiselongue gewählt, wobei sich auch hier die Gestalt der Front langsam vom massiven Holz zum hinterleuchteten Shoji-Papier hin öffnet, um ausreichend Licht hindurchzulassen.
Kumiko-Anleihe bei der Leuchte
Was im Chaiselongues-Korpus die schmalen Kumikos sind, ist bei der Leuchte das exakte Negativ. Die Kumikos entstehen dort durch das Licht-Schattenspiel, sobald das Licht eingeschaltet wird. Die Wandleuchte schließt das Möbel zum eigenen Raumbereich konzeptionell ab. Je nach Tageszeit, Stimmungslage oder Anlass kann die Leuchte zum einen durch eine wandseitig liegende Nutleistenführung relativ zur Position des Kopfes verschoben werden. Wird für eine anstrengende Lern- oder Lesearbeit viel Licht benötigt, wird die Leuchte – am Rahmen gegriffen – näher herangezogen. Bekommt das Licht am späten Abend mehr die Bedeutung einer Stimmungsbeleuchtung, wird sie auf Abstand geschoben.
Gefertigt wurde das Möbel in schlichtem Ahorn. Kontrast in Farbe, Haptik und Wärme stellen die Polsterelemente dar. Als drittes Material bringt das weiße Shoji den bereits hellen Ahorn zum Leuchten.
Ergonomie und Selbstversuche waren maßgebend für die Dimensionierungen in der Möbelgestaltung. Der goldene Schnitt taucht eher versteckt bei der Wahl von Ergänzungsmaßen auf. Mit einer Höhe von 422 mm lädt die Chaiselongue zum gemütlichen Sitzen ein. Eine nutzbare Polsterfläche von 1870 × 690 mm und das 36° geneigte Rückenpolster mit dazugehörigem Kissen erlauben Liegen und Ausruhen in verschiedenen Körperhaltungen. Bei Bedarf kann das mit Magneten befestigte Schulterpolster abgenommen und die Liegebreite erweitert werden.
Formatkreissäge & Hand-CNC
Neben der umfangreichen Arbeitsvorbereitung verlangte die Möbelfertigung viel Flexibilität. Das traditionelle Kernstück einer Schreinerei, die Formatkreissäge, war elementar für den Bau des Möbels mit seiner gesägten Stäbchenornamentik und den stilprägenden Schrägen im Gestellaufbau. Das Möbel entstand teilweise im Schichtbetrieb mit den Mitarbeitern der Schreinerei im Nachbarort, denn erst abends hatte ich ungestört Zugriff auf die Altendorf-Formatkreissäge. Hilfreich war neben dem umfangreichen Schablonenbau ein präziser digitaler Winkelmesser, um zehntelmillimetergenaue Schrägschnitte definieren zu können. Die Hand-CNC Origin von Shaper Tools ermöglichte den zeiteffizienten Schablonenbau und beispielsweise das akkurate Anfräsen der Zapfen der trichterförmigen Gestellknoten.
Der Mut, ein komplexes Meisterstück konventionell ohne Mehrachs-CNC zu bauen, wurde belohnt. Die anfängliche Skepsis des Prüfungsgremiums gegenüber einem Möbel ohne Schloss und Schubkastenführungen konnte ich durch Detailausführungen mit ausgeprägtem Schwierigkeitsgrad kompensieren.
Jetzt freue ich mich auf den nächsten Schritt, wenn im Herbst meine Ausbildung zum Raum- und Objektdesigner an der Fachakademie in Garmisch beginnt.
»Mein Ehrgeiz treibt mich täglich aufs Neue an, erleichtert mir selten das Leben, aber hilft mir Neues und Größeres anzustreben! Die Origin ist für mich häufig die direkte Brücke zwischen Entwurf und Werkstück. «
Florian Meigel, Schreinermeister
Foto: Erol Gurian
Steckbrief
Florian Meigel – ist dds-Lesern bekannt als Bundessieger im PLW 2018. 2019 erreichte er den fünften Rang bei den Berufsweltmeisterschaften Worldskills. Einen Sonderpreis erhielt er beim Bundesentscheid Gute Form 2018. Im März 2018 war er Preisträger beim dds-Preis der Arthur Francke’schen Stiftung.