Viel ist geschehen seit der Grundsteinlegung der Zehntscheuer: Die einstige Scheune zur Lagerung des sogenannten Zehnten (also von Naturalien-Abgaben an den Landesfürsten) steht heute längst nicht mehr in einem Dorfgefüge, sondern als Wohn- und Bürogebäude im historischen Ortskern eines Tübinger Stadtteiles. Dass die Zehntscheuer erfolgreich umgenutzt werden konnte, ist wie so oft einem glücklichen Zufall zu verdanken, erzählt Christoph Manderscheid, der von dem Verkaufswunsch der Erbengemeinschaft über einen Freund via Online-Annonce erfuhr. »Wir hatten als Bewerber den Vorteil, das Projekt realistisch einschätzen zu können«, sagt Manderscheid. Dank einer vorhandenen Bauaufnahme ließ sich zudem in kürzester Zeit eine verlässliche Machbarkeitsprüfung und eine belastbare Kostenaufstellung anfertigen, die im Kauf der Immobilie und in der Gründung einer Baugemeinschaft mündete.
Eine Scheune wird zum Wohnhaus
Die Ausgangslage für Sanierung und Umnutzung stand unter einem denkbar guten Stern, denn das Eichenholzfachwerk war laut Manderscheid: »erstaunlich gut intakt«. Lediglich ein paar Streben und Balken galt es zu verstärken. Deckenbalken, die nach heutigen Maßstäben unterdimensioniert waren, fanden dort Wiederverwendung wo die Spannweiten vergleichsweise gering ausfallen. Zur energetischen Ertüchtigung erhielt das Gebäude zusätzlich eine Aufsparrendämmung und einen Innendämmputz.
Die neu eingebrachte Grundrissstruktur strebt unterdessen danach, die vorhandenen Gebäude-Charakteristika und Dimensionen sichtbar und damit erlebbar herauszustellen. So entstanden über zwei Geschosse reichende Wohnhallen nach zeitgemäßen Wohnstandards, deren Galeriesysteme zur Obergeschosserschließung der Bausubstanz auf eindrucksvolle Weise Wirkungsraum geben. In der Ausformulierung der neu ins Gebäude eingebrachten Elemente spielt dabei der entschlossene Einsatz von Farbe eine zentrale Rolle; die insbesondere bei der von der Decke abgehängten Faltwerktreppe in den Büroräumen ein Statement mit Strahlkraft setzt. »Farbe ist eine entscheidende Dimension, die viel zu wenig Beachtung findet«, so Manderscheid.
Um im Zuge dieser Gestaltungsansprüche drei Wohneinheiten und das Architekturbüro Manderscheid mit jeweils eigenständigen Gebäudezugängen unterbringen zu können, war – in Absprache mit dem Denkmalamt – das Einbringen unterschiedlicher Treppenmodelle und eine sorgfältige Planung der natürlichen Belichtung vonnöten. Letztere führte zu einer Reihe neuer Fassadenöffnungen deren Formate »bewusst die Gefache aufbrechen«. Die Verglasungen wirken so kompakt, ohne die historische Konstruktion zu beeinträchtigen; was für sich betrachtet eine konzeptionelle wie auch handwerkliche Meisterleistung ist, über die wir in der Juni-Ausgabe berichten.
Der Wert von Neu und Alt
Wenn Christoph Manderscheid vom Erhalt bestehender Gebäudestrukturen spricht, wird deutlich: Es geht ihm vor allem um den Erhalt von Ortsidentität und das Erkennen von Qualitäten als auch im baulichen Kontext sowie im individuellen Detail.
Die daraus resultierende Frage, ob Sanieren per se erstrebenswerter als neu bauen sei, verneint Manderscheid und verweist auf den Schweizer Architekten Luigi Snozzi, der dazu klar formulierte: »Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung, zerstöre mit Verstand.« Einen ganz konkreten Ausdruck findet diese Haltung in der Umnutzung der Zehntscheuer, die das Vermächtnis vorangegangener Generationen ehrt, indem sie seit Ostern 2020 bis unter den First belebt wird und so ihre Jahrhunderte währende Geschichte im Geist der heutigen Zeit fortschreibt.
Henriette Sofia Steuer saniert aktuell ein 130 Jahre altes Bauernhaus und hat sich bei der Umnutzung in ein Vier-Parteien-Wohnhaus – aus Respekt vor der Leistung seiner Erbauer – an der vorgefundenen Gebäudestruktur orientiert.
Steckbrief
Für die Umnutzung der Zehntscheuer begründet Architekt Christoph Manderscheid eine Baugemeinschaft. Neben Familie Manderscheid zieht im Frühjahr 2020 auch das Architekturbüro Manderscheid sowie zwei weitere Wohnparteien ins Gebäude ein.
»Bestand gibt uns die Chance, Raumfiguren entstehen zu lassen, die man im Neubau- bereich nicht denken würde.«