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In Beziehung gesetzt

Gestaltung
In Beziehung gesetzt

Traditionsverbunden und doch modern. Einfache Materialien, aber edel verarbeitet. So charakterisiert Axel Müller-Schöll das private Gästehaus, das er zusammen mit dem Studio Paretaia realisiert hat. Hier erläutert er das Gestaltungskonzept.

Ganz in der Nähe von Schaffhausen liegt im Windschatten des Bodensees direkt an der Schweizer Grenze die Gemeinde Wiechs am Randen, ein 400- Seelen-Dorf mit einer Kirche und einem etwas abseits gelegenen Dorfplatz. Vor zwei Jahren bekamen wir den Auftrag, hier ein privates Gästehaus zu planen, das nach 14 Monaten Bauzeit im Herbst vergangenen Jahres fertig wurde.

Zuvor stand hier ein denkmalgeschütztes Gebäude, das so baufällig war, dass sich die Behörde einem Abriss erst gar nicht entgegen stellte. Allerdings verband sie mit der Baugenehmigung die Maßgabe, bei einer Neubebauung die Gebäudekontur in ihrem Ansatz zu erhalten und den Charakter des Dorfplatzes zu respektieren.
Inspirationen
Das Dorfbild wird überwiegend von älteren Gebäuden in landwirtschaftlicher Nutzung geprägt, von Kombinationen aus Wohn- und Scheuerngebäuden. Dieses Baumuster war daher auch der Fingerzeig beim Entwurf des neuen Gebäudes: Gästezimmer und ein großer Wohnraum unter dem Dach bilden den Inhalt eines tongedeckten Riegels, der rechtwinklig von einem zweiten, blechgedeckten Gebäude durchdrungen wird. Hier sind – analog zu den traditionellen Scheuerngebäuden – die großvolumigen Räume untergebracht, die Wohnküche im Erdgeschoss und ein anderthalb- geschossiges Wohn- und Gästezimmer im Obergeschoss.
Die Regeln, die wir für die Gestaltung festgelegt haben, ziehen sich von der Außenhaut durch die Innenräume hindurch, die Materialisierung lehnt sich eng an die der Nachbarbebauung an, wobei die Art der Detaillierung den entscheidenden Unterschied darstellt. Im ganzen Gebäude wurde neueste Technik eingebaut. Über ein Bussystem lässt sich die Heizung auch aus der Ferne regulieren, die Fensterläden sind zentral bedienbar und in den Räumen lassen sich diverse vorprogrammierte Lichtstimmungen erzeugen.
Transformationen
Auf Wunsch der Bauherrschaft wurde die Außenhaut des Gebäudes möglichst witterungsresistent ausgebildet. Daher haben wir auf die Verwendung von Holz (fast) ganz verzichtet. Folglich wurde auf der Terrasse vor der Küche das ursprünglich hölzerne Vorbild des Gartentisches in ein wind- und wetterfestes Betonfertigteil transformiert.
Die Fenster sind in Holz-Alu-Bauweise ausgeführt. Für die Fensterläden wurde zusammen mit der beauftragten Firma ein Schiebeladensystem entwickelt, das flächenbündig in die Fassade integriert ist. Die Aluminiumlamellen sind pulverbeschichtet. Die großen Läden des „Scheunenriegels“ liegen zwar vor der Fassade, dafür aber flächenbündig unter dem Rinnenkasten des Uginox-Daches. Formal neu wurde dem Ensemble der Giebel zum Dorfplatz hinzugefügt. In der zweischaligen Konstruktion sind Nischen für eine Verschattungsanlage vorgesehen, die eine Belichtung und Belüftung der Bäder ermöglicht, ohne dass von außen die dahinter liegenden Räume eingesehen werden können. Die Anlage ist eine Sonderanfertigung aus Metall und fügt sich in geöffnetem Zustand flächenbündig in die Fassade ein.
Rüster und Rostbraten
Das Herzstück des Gästehauses ist der zentrale Raum im Erdgeschoss des Scheuernriegels, eine Kombination von Küche und Gastraum. Da man im Urlaub den Abstand vom Alltag sucht und die Gesellschaft von Freunden beim gemeinsamen Kochen und Essen besonders genießt, orientierten wir uns bei der Formulierung der Anmutung an den sparsam mit warmem Licht ausgeleuchteten schwäbischen und badischen Weinstuben, in denen der Duft von Rieslingkraut, Rostbraten und Trollinger in hölzerne Wandtäfer eingepackt ist.
Wie bei diesem Bautypus üblich, ist auch hier der Raum überhöht, wobei der Stubenmaßstab durch die umlaufende Holzvertäfelung erzeugt wird, die mit einem lebendigen Rüster furniert wurde und nach oben mit einem kräftigen Profil abschließt. Umlaufend integriert in diesen Fries sind Leuchtstoffröhren, die die darüber liegende Geweihebene – die künftig vom sorgfältig bejagten und gehegten Revier des Bauherrn berichten wird – indirekt ausleuchtet.
Die Arbeitsfläche der Küche ist als vorgefertigtes Varicor-Inlet ausgeführt, das nicht nur die komplette Rückwand einbindet und die üblichen hässlichen Anschlüsse mit Strangprofil und Silikon überflüssig macht, sondern außerdem umlaufend einen Schwallrand ausbildet. An festlichen Sommertagen ergänzen die Küchentische den Betontisch auf der Terrasse zu einer langen Tafel, an der bis zu 24 Personen Platz finden. Die Maße der Tische sind daher aufeinander abgestimmt worden.
Flächenbündige Reminiszenzen
Wie bei der Außenhaut unterscheiden wir auch im Innenraum zwischen den beiden orthogonal zueinander gestellten Baukörpern. Im Wohnriegel wurde dem ländlichen Vorbild entsprechend bis in Brüstungshöhe eine Lamperie eingebaut. Allerdings ist diese hier flächenbündig ausgebildet, wobei der obere und untere Abschluss zu Putz bzw. Boden jeweils aus einer abnehmbaren Leiste besteht, damit die dahinter verlaufenden Leitungen zugänglich bleiben.
In schwäbischer Manier
Die Auswahl der Materialien folgte dem Prinzip der Schwaben, das schon ihre Regionalküche zu Ehren geführt hat: Einfache Zutaten, aber gut verarbeitet, mit Sorgfalt und Fantasie. Statt Naturstein wurde Steinzeug verwendet, dieses aber trotzdem im schottischen Verband verlegt. Dazu wurden die Fliesen in verschieden breite Riemen aufgeschnitten und in Streifen mit unregelmäßigen Dicken als Bodenbelag ausgelegt.
Die Einbauten sind in Rüster ausgeführt, wie bei den Lamperien der Regel entsprechend: waagrechter Furnierverlauf, flächenbündige Verarbeitung, die Frontflächen durch Sägeschnitte rhythmisiert.
Ahorn und gelber Sand
Für bis zu zwölf Gäste stehen sechs Zimmer bereit. Fünf sind identisch organisiert: Ahornlamperien sind mit Sägeschnitten fein liniert, darüber liegen rohe, nur geglättete Putzflächen. Da der Sand der Region eine schöne ockergelbe Farbe hat, ergibt sich eine sanfte Melierung. Passend dazu sind die Böden mit geölten Eichendielen ausgelegt, zweite Wahl mit lebendigen Astzeichnungen und kraftvollen Splinteinschlägen.
Neben einem begehbaren Schrank verfügen alle Gästezimmer über ein Badezimmer, das immer mit demselben Wandmodul ausgestattet ist. Leitungen sind so verlegt, dass hinter dem Spiegel noch Volumen für die einschlägigen Utensilien entsteht sowie im Bereich der Dusche eine entsprechende Nische. Das Format dieser Wand wurde aus dem Vielfachen der 50x50mm großen, bunten Glasfliesen eines tschechischen Herstellers (Lifestyle) entwickelt, der mit diesem Produkt die Anmutung klassischer Mosaikfliesen in ein – auch preislich – attraktives Industrieprodukt umgesetzt hat. Die weißen Fliesen aus dem Standardsortiment sind bündig mit den geputzten Flächen verlegt.
Farben, Rahmen und Füllung
Die Gästezimmer unterscheiden sich durch eine zugeordnete Farbe, welche die Zimmertüren kodiert und in den farbigen Fliesen im Bad wiederkehrt. Auch die anderen Türen in diesem Wohngebäudeteil sind – in Erinnerung an die früheren Türen mit Rahmen und Füllung – farblich differenziert, und zwar mit zwei verschieden grauen Laminaten der Firma Abet.
Um Flächenbündigkeit zu erreichen, ist eine handelsübliche Stahlzarge derart modifiziert worden, dass sie jeweils mit einem U-förmigen Profil an die Wand anschließt. Damit wird die geputzte bzw. tapezierte Fläche vom lackierten Stahlrahmen der Tür klar durch eine Fuge abgetrennt.
Im Scheuernriegel wurden die Türen nicht laminiert, sondern sorgfältig mit Rüster furniert. Um sie in Anlehnung an die alten meisterhaften Kassettentüren zu proportionieren, wurde das Furnier in verschiedenen Richtungen aufgelegt.
Ein Gästezimmer mit Sonderstatus
Das sechste Gästezimmer, das über der Küche im Scheuerngebäudeteil liegt, nimmt einen Sonderstatus ein. Wenn das Haus nicht voll belegt ist, kann es auch als Wohnzimmer genutzt werden. Damit der Raumfluss nicht gestört wird, stehen die Betten auf einer Galerie. Der Aufgang ist als Zugtreppe ausgebildet, deren Motor in den Trempeleinbauten verschwindet. Die Doppelflügeltüren können um 180 Grad aufgeschlagen werden und erhalten so den Status von Klappläden. Sie unterstreichen die verandaähnliche Anmutung des Raumes, die von der großen Öffnung nach Norden dominiert wird.
Ein breit gezogenes Panorama- fenster gewährt wie im benachbarten Schloss Blumenfeld einen besonderen Blick vom Schreibtisch aus über die sanften Hügel des Hegaus, an manchen Tagen sogar bis zu den Alpen.
Die Konstruktion der Dächer ist eine Meisterleistung der beteiligten Statiker und des ausführenden Zimmermanns. Über dem Scheuerngebäude liegt ein Pfettendach, das das Wohn- bzw. Gästezimmer überdeckt.
Lounge unter dem Dach
Das Dach über dem Wohngebäude ist als Sparrendach ausgebildet. Der darunter liegende Raum wird von der Vierung dominiert, die durch die Überschneidung beider Dächer entsteht. Durch das angrenzende Gebäude war die Firsthöhe vorgegeben, so dass konstruktiv um jeden Zentimeter Kopffreiheit gekämpft werden musste. Das führte dazu, dass zwischen den Sparren und nicht auf der Dachfläche gedämmt wurde.
So konnten mangels Tiefe auch keine Einbaustrahler verwendet werden. Wir entschieden uns stattdessen für ein kompaktes kubisches Element, das mit unterschiedlichen Leuchten bestückt ist und entlang dem First abgehängt wurde.
Durch das „Fluten“ der Dachflächen oder das akzentuierte Anstrahlen der großen Jagdtrophäen, die an den Stirnwänden einmal hängen werden, sind verschiedenste Lichtstimmungen möglich. Ein in die Stirnseite des Kubus eingebauter Beamer lässt die Giebelwand zum Heimkino werden. Die Projektions- fläche ist auf den offenen Kamin abgestimmt, der flächenbündig eingebaut ist, wie es das gestalterische Gesamtkonzept vorgibt.
Für eine gute Raumakustik sorgen geschlitzte Ahornplatten (Tavapan). Um die typischen bauartbedingten spitzen Winkel im Fußbodenbereich vermeiden zu können, endet die Verkleidung mit horizontalen Trempeleinbauten. Hier können Zeitschriften, Audiotechnik, Telefon usw. untergebracht werden.
Der eigentliche Höhepunkt des Gebäudes aber liegt im Untergeschoss. Hier befindet sich das Schwimmbad, dessen Raumkleid ebenfalls aus der Geometrie des Fliesenformats abgeleitet wurde.
Leuchtende Waldbäume
Die Bodenfläche ist als Schichtung verschiedener Blautöne angelegt. Hinter den klaren kubischen Raumgrenzen befinden sich Dusche, Sauna, Dampfbad, die gesamte Steuerungstechnik sowie die Be- und Entlüftungsanlage.
Die Zuluft wird über eine mit Tavapan verkleidete Wand großflächig und damit sanft eingeblasen und die Abluft auf der gegenüberliegenden Seite abgezogen. Ein schmales, von der Technik nicht benötigtes Volumen, wurde als Leuchtband ausgebildet, dessen Glasabdeckung mit Illustrationen deutscher Waldbäume aus dem Jahr 1934 bedruckt wurde und nun den Gästen, beim entspannten Schwimmen entlang dem Becken, heiter und informativ zugleich entgegenleuchten …
Wie lässt sich ein solch hoher Präzisionsgrad im Innenausbau, bei dem die verschiedenen Gewerke ineinander greifen müssen, bewerkstelligen? Mit einer guten Bauleitung und präziser Planung allein ist dies nicht zu machen. Unersetzlich ist der intensive Dialog zwischen Planern und Ausführenden, aber selbstverständlich ebenso unter den verschiedenen Gewerken.
Engagierte Handwerker
Für eine exakte Umsetzung der Fliesenpläne in den Bädern baute sich der ausführende Handwerker zum Beispiel eine spezielle Schablone, die dann anschließend auch dem Installateur und dem Stuckateur die notwendige Planungssicherheit gab.
Im Innenausbau brachten öfters die Schreiner zu den Baubesprechungen raffinierte Funktionsmuster mit, die eine vorgeschlagene Lösung erst anschaulich machten.
Erst so wird es möglich, Varianten in der Konstruktion, die unumgänglichen Toleranzen in der Ausführung sowie die Anschlüsse zu den anderen Bauteilen zu diskutieren und letztendlich auch formal zu überprüfen
Sogar das Kranzgesims der Küche wurde zuvor in der Werkstatt simuliert, um die indirekte Beleuchtung in ihrer Wirkung erleben zu können.
Mente et manu – mit Hirn und Hand
Von einer guten Idee bis zu einer guten Lösung ist es also ein langer Weg, bei dem Ausdauer und Einigkeit über den angestrebten Erfolg gefordert sind. Und wenn sich dazu noch eine Bauherrschaft findet, die Gestaltungstiefe zu schätzen weiß, ist jenes beflügelnde Moment gegeben, das aus einer Vielzahl von Einzelgewerken ein schlagkräftiges Team formt – die beste Vorraussetzung für eine nicht alltägliche Qualität, die eben nur in Mannschaftsleistung zu realisieren ist. Axel Müller-Schöll

Planung und Ausführung
Architektur/Innenarchitektur: Studio Paretaia, Stuttgart Prof. Axel Müller-Schöll, Susanne Müller-Schöll Jürgen Wünsch und Mitarbeiter Bauleitung: Architekturbüro Rainer Wezstein, Tengen Statik: Ingenieurbüro Manfred Kemmler, Hilzingen Innenausbau: Einrichtungen Heppeler, Tuttlingen Werner Jaus GmbH, Stuttgart Schlosserarbeiten: Wolfgang Sautter, Filderstadt Karl Heinz Ruf , Watterdingen Schiebeläden: Rolladen Kaiser, Aalen Zimmerarbeiten: Holzbau Müller GmbH, Blumberg Fliesen, Kamin: Edwin Keller, Tengen Sanitär: Bruno Brütsch, Tengen
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