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Farbig, aber nicht bunt

Gestaltung
Farbig, aber nicht bunt

Die 60er-Jahre erleben zur Zeit überall eine Renaissance: im Film, in der Kunst, im Design und natürlich in der Mode. Axel Müller-Schöll hat mit seinem Team ein Gebäude aus den Sixties renoviert und dabei behutsam neu interpretiert.

Als das Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands 1970 seine neue Hauptgeschäftsstelle in einer der begehrten Halbhöhenlagen am Rande der Stuttgarter Innenstadt bezog, bekamen die gut zehn Dutzend Mitarbeiter eine der modernsten Büroumgebungen ihrer Zeit. Die Wände aus rohem Beton, ein sattgrüner Nadelfilzboden, großzügige Trennwände aus Naturholz, leuchtend orange Wandausschnitte und überall Nischen mit in dunkelbraunem Breitcord bezogenen Sesseln, gehalten von einer eleganten Kunststoffschale. Alle Einbaumöbel und Schreibtische waren weiß beschichtet, oft akzentuiert mit knallroten Schreibtischlampen …

Integriert in das Büroensemble war die Diakonische Akademie, mit einem Gästetrakt, drei Hörsälen und einem Gymnastikraum. 35 Jahre intensive Nutzung haben ihre Spuren hinterlassen. Das meiste Mobiliar von damals wurde verschlissen ausgemustert, der Teppich war an vielen Stellen durchgewetzt. Die Datenleitungen zogen sich wie Kabel-kanal-Bandwürmer durch die Räume, und der Sichtbeton wurde fast überall „weggestrichen“. Eine Renovierung war überfällig, zumal nach der Wende verschiedene Bereiche der Hauptgeschäftsstelle nach Berlin umzogen und nun das Nutzungskonzept der Immobilie auf den Prüfstand gestellt werden musste.
Interpretieren und neu formulieren
Vor diesem Hintergrund wurden wir im Herbst 2000 mit dem Umbau und der Renovierung der Innenräume sowie mit der Gebäudeerschließung beauftragt. Das Kernstück dieser Operation bildet die Neuordnung der Eingangsetage und des Vorplatzes, von dem aus nach dem Umzug der Diakonischen Akademie nur noch ein Haupteingang bedient werden muss. Eine Bambusbepflanzung trennt die neu formulierte Zugangsgasse von der Terrasse, die nun vor den ehemaligen Akademieeingang gelegt wurde.
Eine filigrane Fahrradgarage – als Hommage an die Mitarbeiter, die mit dem Rad allmorgendlich den Hang von der Stadt hinauf zum Büro überwinden – bildet mit einem (bituminierten) roten Teppich die Willkommensgeste für den Eingang des Gebäudes.
Das ursprüngliche Materialkonzept des Gebäudes konnte nicht „renoviert“, also erneuert werden, da sich die Eingriffe an den Sichtbetonflächen als irreversibel herausstellten.
Wir entschlossen uns zu einer Interpretation des Innenausbaukonzeptes, die vereinfacht gesagt in dessen Drehung um 90° besteht: Die Sichtbetonwände wurden weiß verputzt; die Bodenflächen erhielten dafür eine Beschichtung in Anmutung und Farbe des Sichtbetons (Pandomo), in die textile Flächen mit unterschiedlichen Farben und Funktionen eingelassen sind – als „Teppiche“ und weniger als Teppichboden.
Statt der weiß laminierten Wandtäfer wurde ahornfurnierte Paneele eingesetzt, mit einer durch entsprechende Sägeschlitze akzentuierten waagerechten Ausrichtung. Diese Holztafeln benutzten wir auch dazu, um Räume oder Teile von Räumen zu „stimmen“, ihnen also etwa Festlichkeit, Wärme, Heiterkeit usw. zu verleihen, wenn dies mit den – von den Benutzern oft als kühl empfundenen – Putzflächen schlecht zu erreichen gewesen wäre.
Renovieren und Aktualisieren
Im Eingangsbereich wurde an Stelle der nicht mehr zeitgemäßen Pforte als wichtigster Eingriff ein Empfangstresen eingebaut, dem unmittelbar ein neu gestalteter Wartebereich zugeordnet ist. Die Garderobe findet sich im früheren Gerätedepot wieder . Damit hat das Foyer jenen einladend freundlichen Charakter bekommen, der für die wichtigen Vor- bzw. Nachgespräche bei Konferenzen ebenso wichtig ist wie für die Kaffeepausen dazwischen.
Zusammen mit den Mitarbeitern der Schreinerei Holz.exe aus Böblingen entwickelten wir runde Klapptische, die in eingeklapptem Zustand einen kraftvollen Wandschmuck darstellen. Ausgeklappt nehmen diese Tische das Kaffee-Buffet auf; wenn man sie dazu noch auszieht, bieten sie als Stehtisch Platz für bis zu zehn Personen.
Darüber angeordnet sind drei große Bildschirme, die über Projekte und neue Kampagnen der verschiedenen Geschäftsbereiche berichten und damit gleichermaßen Gäste und Mitarbeiter informieren – zum Beispiel über Brot für die Welt oder die Katastrophenhilfe. In einer Nische haben Medien ihren Platz gefunden, die allgemein zugänglich sein sollen. Hinter einer Glasscheibe können Gäste E-Mails abrufen oder via Internet Reiseinformationen einholen.
Da mit der Zusammenlegung von Hauptgeschäftsstelle und den früheren Akademieräumlichkeiten die Orientierung im Gebäude noch schwieriger geworden ist, als dies ohnehin schon war, wurde ein einfaches Orientierungssystem entwickelt, das eine Beziehung zwischen den Treppenhäusern und den Kommunikationsräumen herstellt und wie ein Nahverkehrsplan gelesen wird – ein Vergleich, der sich bei einem derart verwinkelten Gebäudegefüge geradezu aufdrängt.
Um spürbar zu machen, dass die beiden Gebäudeteile nun unmittelbar zusammengehören, wurde der Übergang zwischen Hauptgeschäftsstelle und ehemaliger Akademie optisch mit Oberlichtspiegeln verbreitert. Unterstützt wird diese Maßnahme durch einen (quer-)gestreiften Teppichboden, der so den Kleinen Konferenzraum quasi in diese Foyerzone integriert. Großzügig wirkt auch ein großer, in Bootsform geschnittener massiver Ahorntisch, der während den Sitzungen den Sichtkontakt der Gesprächsrunde untereinander begünstigt.
Im Großen Konferenzsaal werden die Holztafeln (in die nun die Datenkabel integriert sind) mit einem leuchtenden Rot auf dem Boden und mit Stühlen in verschiedenen „Anzugs-Grautönen“ kombiniert. Ein Teil der Wandverkleidung lässt sich wie eine große Schiebetüre aus der Fläche heraus zur Seite schieben, um für Präsentationen eine plane, reinweiße Projektionsfläche zu erhalten.
Farbig, aber nicht bunt
Im Speisesaal wurde das beschriebene Materialkonzept fortgeführt, wenn auch in Nuancen modifiziert. Der Boden- einleger besteht hier aus hygienischen Gründen nicht aus textilem Material, sondern aus einer weiß eingefärbten Beschichtung, die den neu eingerichteten Selbstbedienungsbereich für die beiden Wahlmenüs verortet. An den Wänden wurden die Proportionen harmonisiert: Die Ahornverkleidung im unteren Teil bindet den Raum mit einer Banderole zusammen (die Tavapan-Platte verbessert hier vor allem die Akustik). Die Lichtgassen unter dem steil aufsteigenden Dach sind als farbig angelegte Putz- felder ausgeführt. Das Farbkonzept dazu entstand in Zusammenarbeit mit dem Künstler Heinz Thielen, der auch die Farbgestaltung der Medaillons im Foyer des Eingangsbereiches vornahm. Die Verwendung der Farbe Blau sollte vermieden werden, um keine visuelle Konkurrenz zum Schriftzug „Diakonie“ zu erzeugen. Der Künstler entwickelte eine Farbenfolge, die „in ihrer Summe den Eindruck des Diakonie-Blau ergibt“.
Heinz Thielen rührte selbst die Caseinfarben an und malte die Flächen aus. Ein Spannungsbogens von der „architektonischen Wandbehandlung“ zur „klassischen Malerei“ entwickelt sich in immer freierer Form über alle Stockwerksebenen. Auf diese Weise werden interessante Sichtbeziehungen neu akzentuiert.
Fließende Flächen
Ein tektonisches Prinzip des Gebäudes ist die Wahrnehmung einer über sämtliche Etagen fließenden, durchgängigen Geschossfläche. Ein Eindruck, der durch die (fast) rahmenlos auf die Eichentrennwände gesetzten Oberlichtgläser und durch den durchgehenden grünen Boden unterstützt wurde – zumal im Diakonischen Werk, wie wir beobachtet hatten, die meisten Bürotüren den Tag über offen stehen. Da aus finanziellen Gründen wiederum nur Nadelfilz als Ersatzbelag in Frage kam und das Grün sich hier nicht nur physisch, sondern auch visuell abgenutzt hatte, entwickelten wir zusammen mit Heinz Thielen eine Art Patchwork-Prinzip, das die großen Flächen gliedert, ohne ihre Großzügigkeit zu konterkarieren.
Dazu wurden vier verschiedene Filztöne in Mondrianscher Manier auf den jeweiligen Geschossflächen arrangiert. Im Präsidial- und Geschäftsführungs-bereich wurde dieses Instrumentarium dazu genutzt, die Besprechungsbereiche zu zonieren. Zusammen mit massiven Holztischen, die für die individuellen Bedürfnisse ihrer Nutzer von den Schreinern gefertigt wurden, und einer einfachen, ebenfalls handwerklich hergestellten Holzlamellendecke strahlen die Räume nun Würde, gleichzeitig aber auch jene Freundlichkeit und Bescheidenheit aus, die dem Selbstverständnis dieser Institution entspricht.
Auch der bisherige Hörsaal wurde dem Grundkonzept entsprechend renoviert. Der Raum erhielt eine moderne Medienausstattung und einen direkten Ausgang zu den rückwärtigen Freiflächen. Diese Aufwertung des Raumes entstand als „Synergie-Effekt“ aus den Brandschutzauflagen.
Ein Zimmer zuviel
Das Erkennen, dass die Motivation von Mitarbeitern nicht nur durch die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit oder gar die Höhe der Entlohnung bestimmt wird, sondern zu einem entscheidenden Anteil auch durch die Qualität des sozialen Klimas, ist einer der prägenden Grundgedanken, die den Entwurf einer auf die Zukunft ausgerichteten Renovierung darstellen sollte. Ein Glück, dass den Auftraggebern dies ein ausdrückliches und herausragendes Anliegen war, denn unter der Maßgabe der Wirtschaftlichkeit bzw. gedeckelter Budgets ist dies zu realisieren für alle Beteiligen eine besondere Herausforderung. So wurde der bisherige Clubraum der Akademie das berühmte „Zimmer zuviel“, das Le Corbusier als Indiz für gute (Innen-)Architektur benannt hat. Einerseits dient dieser Raum künftig als Ergänzungs- oder Ausweichbüro – wenn zum Beispiel bei einem Projekt für eine Arbeitsgruppe kurzfristig Platz benötigt wird. Er steht den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aber auch für private Festlichkeiten zur Verfügung. Dazu wurde er mit einer kleinen Küche und einem Abstellraum ausgestattet. Hier werden die Behelfs- tische (Wilkhahn) deponiert, die nach dem Prinzip von Tischtennisplatten zusammengefaltet werden können.
Neue Perspektiven
Die Auflagen für die Maßnahmen des vorbeugenden Brandschutzes machten im Erdgeschoss den Einbau von zwei großen Schiebetüren notwendig, mit denen sich die Treppenhausausgänge separieren lassen. Daraus ergibt sich als Nebeneffekt, dass der Speisesaal mit der Peripherie (Sanitäreinrichtungen) auch unabhängig vom restlichen Gebäude genutzt und vielleicht sogar gelegentlich vermietet werden kann.
Zu diesem Bereich gehört auch die ehemalige Rezeption der Akademie, die sich improvisierterweise in den letzten Jahren als ein gefragter Anlaufpunkt für den Erwerb von Zwischenmahlzeiten entwickelte. Dieses Serviceangebot sollte im Zuge der Umbaumaßnahme entsprechend fest etabliert und dazu in mögliche Nutzungsvarianten eingebunden werden.
Eine nachhaltige Tasse Espresso …
Wir waren uns schnell darüber einig, dass dieser Fixpunkt eher etwas vom Charme einer italienischen Espresso-Bar haben müsste als von dem einer Büro-Cafeteria, wobei das ohnehin enge Budget-Korsett keine große Sprünge erlaubte. So wurde aus der Not eine Tugend: Wir sicherten die im Zuge der angeordneten Brandschutzmaßnahmen ausgebauten (weil nicht mehr zulässigen) Türblätter, Zargen und Verkleidungen, die (wie auch die Büro-Schrankwände) vor 35 Jahren aus dem wunderbaren, honigfarbenen Holz der Spessart-Eiche gefertigt wurden.
Aus den ehemaligen Flurtüren entstanden nun die wegklappbaren Frontelemente, aus den alten Türzargen wurde ein Bar-Tresen „hochgestapelt“, und mit den Verkleidungen der früheren Garderobe im Foyer wurden patchworkartig die Brandschutzeinrichtungen an den Wänden verkleidet. Auf diese Weise ließ sich die nachhaltige Nutzung des Materials mit einem sehr angenehmen Mehrwert verbinden.
Dass sich durch die verspiegelte Wand das kleine Café (fast) gratis nicht nur auf das Doppelte vergrößerte, sondern dabei auch noch interessante Blickbeziehungen zwischen Speisesaal, Bistro und der Terrasse entstanden, ist eine glückliche Fügung – die einer Espresso-Bar aber prima zu Gesicht steht! Prof. Axel Müller-Schöll,
Studio Paretaia

Planung und Ausführung
Innenarchitektur: Studio Paretaia, Stuttgart Prof. Axel Müller-Schöll und Jürgen Wünsch mit Josef Ruf Bauleitung: dimension 5, Stuttgart Projektmanagement: Martin Böhringer, Diakonisches Werk Stuttgart Lichtplanung:Thomas Mayer-Doderer, Aichtal Innenausbau: Schreinerei Holz.exe, Böblingen Schreinerei Kopf, Stuttgart Schlosserarbeiten: Wolfgang Sautter, Filderstadt Elektroinstallation: Elektro Heldt GmbH, Stuttgart Bodenverlegearbeiten, Beschichtungen: Fußboden Haag, Stuttgart Kunstkonzept und Farbberatung: Heinz Thielen, Stuttgart Grafik: Michael Kimmerle, Stuttgart
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